10.05.2025

Taiwan Today

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Ein Leben schnitzen

01.05.1994
Der Holzschnitzmeister Huang Kwei-li kann auf mehr als 75 Jahre Berufserfahrung zurückblicken. Handwerkliche Beschränkungen bei der Ausübung seiner Kunst gibt es für ihn nicht. "Mein Messer ist wie ein Stift", sagt er. "Es folgt meinem Geist."
Der Tempelschnitzer Huang Kwei-li hat sein Leben einem traditionellen, im Aussterben begriffenen Kunsthandwerk gewidmet. Mit 91 Jahren und nach Vollendung vieler hundert Werke versucht er, seine Kunst weiterzugehen.

Volkstümliche chinesische Tempel sind voller Farben und von rokokohafter Komplexität. Tier- und Menschenfiguren reihen sich entlang der geschwungenen Dächer; in tragende Balken und Pfeiler sind Drachen, Löwen und komplizierte, bunt ausgemalte Szenen geschnitzt; auf Täfelungen, Türen und Fenstern finden sich Darstellungen von Motiven aus der Geschichte, der Literatur, der Religion und der Mythologie. Von den grimmigen Türwächtern, die den Eingang schmücken, bis zu den in reich verzierte Gewänder gekleideten Altarfiguren ist der Tempelbesucher eingetaucht in ein Meer kultureller Symbolik, die, zumindest in den besten Tempeln, sorgfältig und gewissenhaft von Meistern ihres Fachs kunsthandwerklich umgesetzt ist.

Die visuellen Motive und die Ikonographie eines chinesischen Tempels sind nicht minder komplex und faszinierend als die der Kathedralen von Paris oder Madrid; und aufgrund dieser Komplexität können sie auch genauso schwer verständlich sein wie die Symbolik jener Kathedralen, wenn man nicht jede der angewandten Künste einzeln untersucht. Eine ganze Abhandlung könnte allein über die Querbalken in den Gängen geschrieben werden, die die schweren, ziegelgedeckten Dächer tragen helfen.

An diese Balken schließen sich dekorative Täfelungen und andere Verzierungen an, auf denen detaillierte, meisterhaft komponierte Szenen zu sehen sind, die aus masiven Holzbrettern geschnitzt sind: Zwei Generäle zu Pferd kämpfen inmitten einer hitzigen Schlacht um eine Waffe; ein anderer General empfängt kühl einen vom Feind gesandten Diplomaten; ein weiser Richter verurteilt einen Kläger, der in demutsvoller Reue vor ihm kniet. Solche Schnitzereien verleihen den Tempeln nicht nur den Flair von Reichtum zu Ehren der dort angebeteten Götter, sondern sie rufen den Besuchern auch traditionelle chinesische Werte wie Loyalität, Patriotismus und kindliche Pietät in Erinnerung.

Bei den in Tempeln angefertigten Schnitzereien handelt es sich selten um Ausarbeitungen im eigentlichen Sinne religiöser Motive. Oft sind die Themen der Geschichte oder populärer Literatur entlehnt. Auf dem Mittelteil des 1935 entstandenen Altars des Chuanchi-Tempels ist eine Episode aus dem Roman "Die Drei Königreiche" dargestellt, in der der Herrscher Liu Pei seinen Feind überlistet und eine Frau gewinnt.

Solche Holztäfelungen verweisen auf eine jahrhundertealte Tradition dekorativer Künste, die über Generationen die Domäne hochbegabter Kunsthandwerker waren. Aber heute finden die übriggebliebenen Meister sowohl in Taiwan als auch auf dem Festland nur mehr wenige Lehrlinge, die noch die Hingabe aufbringen, die überlieferte Kunst zu erlernen und weiterzugeben. Moderne Tempelbauer lassen lieber, weil es billiger ist und schneller geht, eine Gußform aus Zement herstellen, als einen befähigten Künstler zu engagieren, der die Motive in minutiöser Arbeit aus einem Holzbalken schnitzt. Erst in den letzten Jahren hat man in der Öffentlichkeit angefangen zu begreifen, was für einen Verlust es bedeutete, wenn diese Künste nicht vor dem Aussterben gerettet würden.

Glücklicherweise sind noch einige vorbildliche Kunsthandwerker trotz ihres Alters als Lehrer aktiv. Einer der bekanntesten Holzschnitzmeister ist der 91jährige Huang Kwei-li(黃龜理), der seine Messer, Hämmer und Meißel seit über fünfundsiebzig Jahren benutzt. In mehr als achtzig Tempeln auf der ganzen Insel hat er über tausend Schnitzereien geschaffen. Huang, der den physischen Anforderungen der Schnitzerei in einem Tempel nicht mehr gewachsen ist, fährt mit seiner Arbeit dennoch fort, indem er kleinere, freistehende Stücke herstellt, in denen er dieselben Techniken zu denselben Themen anwendet. Und er unterrichtet eine ausgewählte Gruppe jüngerer Schnitzer in den Feinheiten des Handwerks.

Der 1902 in einer Bauernfamilie südwestlich von Taipei in Panchiao geborene Huang hatte sich als Junge nicht träumen lassen, einen Großteil seines Lebens in Tempeln zu verbringen. Als er neun Jahre alt war, zerstörte eine Überschwemmung das bebaubare Land der Gegend und zwang seine Familie, in das nahegelegene Chungho zu ziehen. Mit zwölf Jahren begann Huang, eine private Dorfschule zu besuchen, in der er lesen und schreiben lernte. Eines Tages ging er am Chiehyun-Tempel in Panchiao vorbei, an dem gerade Reparaturarbeiten vorgenommen wurden. Der Tempel hatte eine Puppenspieltruppe engagiert, um den Geburtstag eines Tempelgottes zu feiern. Die lebensnahen, bunten Holzpuppen fesselten Huang's Aufmerksamkeit. "Ich war neugierig zu erfahren, wie diese wundervollen Figuren hergestellt worden waren", erinnert er sich.

Huang erzählt, daß er den Tempel bald wieder besuchte, wobei er sich dieses Mal vor allem von den komplizierten Holzschnitzereien, die überall zu sehen waren, angezogen fühlte. Er betrachtete sie lange Zeit und war beeindruckt von der Geschicklichkeit und Präzision der Holzschnitzer. Es waren nicht nur die Reliefs und Skulpturen selbst, die ihn beeindruckten, sondern auch der Prozeß, in dem sie entstanden waren. Noch vor Ort fällte Huang eine wichtige Entscheidung, eilte nach Hause und bat seinen Vater, ihn Holzschnitzerei studieren zu lassen. Sein Vater sprach daraufhin mit einem Freund, Chen Ying-pin(陳應彬), einem bekannten Tempelgestalter und Skulpteur, der die Reparaturarbeiten am Chiehyun-Tempel beaufsichtigte. So wurde Huang im Alter von fünfzehn Jahren Chen's Lehrling.

Damals bedeuteten die Lehrjahre noch jede Menge harte Arbeit, die nicht unbedingt etwas mit dem Erlernen des Handwerks zu tun hatte. "Im ersten Jahr mußte ich alles mögliche machen", erinnert sich Huang. "Kochen, putzen, Wasser und Holz schleppen, und ich mußte sogar Küchenabfälle von weit weg herbeischaffen, um die Schweine zu füttern." Diese Pflichten nahmen den Großteil seiner Zeit in Anspruch und laugten seine Energie aus. "Zeit, um die für einen Schnitzer notwendigen Fähigkeiten zu erlernen, wie z.B. Messer schleifen, fand ich nur nachts. Ich mußte lernen, wie man zwanzig verschiedene Arten von Messern zu verschiedenen Stärken schleift."

Nach einem Jahr durfte Huang sich einem Arbeitsteam im Tempel anschließen, und von da an begann er, die wirklichen Fertigkeiten des Handwerks zu erlernen. "Ich begann mit einfachen Techniken, schnitzte die weniger wichtigen Teile und machte die abschließenden Arbeiten", erzählt er. So lernte Huang zuerst, Bäume, Landschaften oder andere, ausschmückende Teile der Reliefs zu verfertigen.

Ursprünglich wollte Huang mehr lernen als nur Schnitzerei. Er wollte die hölzerne Struktur eines Tempels konstruieren und bauen können, wozu anstrengende körperliche Arbeit erforderlich war, wie z.B. das Anbringen von Balken und Pfeilern. Aber Huang's Meister fand, daß er sich besser für die Feinarbeit des Holzschnitzens eignete, da er die Fähigkeit besaß, kleine Figuren anzufertigen und er dies mit der Hingabe des Perfektionisten tat. Sein Meister nannte ihn "Kwei-li", was "langsam wie eine Schildkröte und präzise wie ein Prinzip" bedeutet. Irgendwann legte Huang seinen eigentlichen Vornamen ab und nahm den neuen an.

Nach Abschluß seiner dreijährigen Lehrzeit arbeitete der nun achtzehnjährige Huang als hauptverantwortlicher Schnitzer in Chen's Team. Nach zwei weiteren Jahren der Arbeit und des Studiums zu Hause nahm er erste eigene Aufträge für dekorative Arbeiten in verschiedenen Tempeln rund um die Insel an.

Daß Huang sich früh einen Ruf machen konnte, lag an dem Wettbewerbssystem, das bei vielen Tempelarbeiten angewandt wurde. Laut Wang Ching-tai(王慶台), dem Autor mehrerer Bücher über traditionelle Holzschnitzerei und Dekan der Abteilung für Bildhauerei an der Nationalen Akademie der Künste Taiwans (National Taiwan Academy of Arts, NTAA), beschäftigte ein Tempel oft zwei Teams von jeweils sechs bis zehn Skulpteuren. Jedes Team arbeitete an einer Hälfte des Baus, normalerweise mit knappem Zeitplan. "Die Schnitzer mußten daher alles geben und hart arbeiten, da sie wußten, daß ihr Ruf davon abhing", sagt Wang. "Normalerweise ließen sich nur wirklich talentierte Schnitzer auf einen solchen Vergleich ein."

Im Alter von 26 Jahren arbeitete Huang als Teamleiter bei einem solchen Wettbewerb des Wantan-Matsu-Tempels im Kreis Pingtung in Südtaiwan. Als Leiter war er sowohl für den Gesamtentwurf als auch die Ausführung der Arbeiten verantwortlich. Sein Hauptkonkurrent war ein erfahrener, 52jähriger Holzschnitzer. Nach Abschluß der Arbeiten erhielt Huang die besseren Kritiken und wurde bald auf der ganzen Insel mit der Leitung von Projekten betraut. "Ich habe in weit mehr Tempeln gearbeitet, als sich die meisten Leute klarmachen", sagt Huang. Ein Großteil der Aufträge bestand in Reparatur- oder Rekonstruktionsarbeiten. Dennoch hatte Huang normalerweise die Chance, seine eigenen Entwürfe und Schöpfungen in ein Projekt einfließen zu lassen. Seine Arbeiten können an vielen bekannten Tempeln gefunden werden, die auch beliebte Touristenattraktionen sind, darunter der 200 Jahre alte Tsushih-Tempel in Sanhsia und der Lungshan-Tempel mitten in Taipei.

Huang's Werk umfaßt Arbeiten an fast allen hölzernen Bestandteilen eines Tempels. "In traditionellen chinesischen Holzgebäuden können fast alle Teile der Konstruktion als Flächen für Schnitzereien dienen", erläutert Wang Ching-tai. "Im Lauf der Zeit übernahm jeder Teil eine spezifische dekorative Funktion und wurde mit einer spezifischen Thematik oder Darstellungsweise assoziiert." Das gilt für alle tragenden horizontalen und vertikalen Balken, für Streben, Konsolen, Abschlußflächen von Bogenkonstruktionen sowie auch für den Altar. Zum Beispiel werden die "Spatzenstreben" - kleine, horizontale Stützen für längere Balken - in runden Formen gehalten, oft in Tiergestalt, um den eckigen Eindruck der oberen Balken optisch aufzulockern.

Viele von Huang's besten Arbeiten sind an den tragenden horizontalen Balken im Eingangskorridor, auf chinesisch yuan kuang(員光)genannt, zu finden. Er hat mehr als hundert solcher Werke verfertigt, darunter viele im Tsushih-Tempel. Ein besonders eindrucksvolles Beispiel seines Werks ist eine solche yuan-kuang-Schnitzerei aus dem Jahre 1920 im Lin-Ahnentempel in Taichung, Zentraltaiwan.

Die zwei Arbeiten stellen legendäre Schlachtszenen aus der Antike dar. In der einen kämpft ein General der Chou-Dynastie gegen sieben Bergdämonen an; in der anderen werden zwei taoistische Unsterbliche von drei weiblichen Naturgeistern attackiert. Die Szenen zeigen kraftvolle Bewegungen, in die Höhe gerissene Arme, die Schwerter und Lanzen schwingen, und wutschnaubende Gesichter. Jedes Element der Komposition weist über sich selbst hinaus auf den Brennpunkt des Geschehens. Solche Schlachtszenen sind immer wiederkehrende, meist an den yuan kuang ausgearbeitete Themen in Huang's Tempelschnitzereien.

Laut Wang Hung-chu(王宏舉), einem wissenschaftlichen Mitarbeiter des Graduiertenprogramms für Volkskünste an der NTAA, an der auch Huang unterrichtet, sind yuan kuang ein wichtiges dekoratives Element in traditionellen Tempeln. An ihnen haben sich Holzschnitzer oftmals profiliert, besonders im Rahmen von Wettbewerben. Die an den yuan-kuang zu findenden Szenen sind dreidimensional ausgearbeitet und können sowohl von vorne als auch von hinten betrachtet werden. Sie erfordern große Geschicklichkeit und eine feinfühlige Hand des Schnitzers, der es verstehen muß, eine komplexe Szene auf engstem Raum mit einer Tiefendimension und einem Eindruck von Entfernung zu schaffen.

Wang erklärt, wie diese Wirkung erreicht werden kann: "Traditionelle Tempelschnitzer kennen die westliche Idee der Perspektive nicht. Sie gründen ihre Arbeiten auf Beobachtungen, die sie bei traditionellen dramatischen Bühnenaufführungen machen." In den meisten Fällen nutzen sie Aufführungen anläßlich von Tempelfeiern für ihre Beobachtungen. "Huang's Stil ist maßgeblich von den Taiwan-Opern beeinflußt", sagt Wang. Diese Opern, bei denen es sich um farbenprächtig stilisierte, gesungene Dramen handelt, haben Bildhauern auch bei der Gestaltung verschiedener Figuren geholfen. Viele der Posen z.B. erinnern an Bewegungen in der Oper.

Die Götter des langen Lebens, des Reichtums und des Glücks treten gewöhnlich als Dreiheit auf. Man findet sie auf Bildern und als Statuen, in Wohnzimmern oder Tempeln. Hier eine Arbeit Huang's aus dem Jahre 1986.

Diese Opern sind auch eine wertvolle Quelle thematischen Stoffs, da sie sich auf berühmte Literatur und historische Begebenheiten stützen, die für die Tempeldekoration wichtig sind. Huang stellt z.B. oft Szenen aus dem klassischen Roman "Die Drei Reiche"(三國演義)dar, dessen Geschichte im dritten Jahrhundert spielt; oder aus "Die Legende von der Vergöttlichung"(封神榜), einem mit taoistischen und buddhistischen Parabeln ausgeschmückten Geschichtsroman aus dem 16. Jahrhundert, der sich um eine Reihe von militärischen Abenteuern dreht. Andere Schnitzereien beziehen sich auf die Mythologie, besonders Geschichten über den Gelben Kaiser(黃帝), den legendären ersten Herrscher Chinas.

Bücher, die diese Geschichten enthalten, sind ebenfalls wichtiges Ausgangsmaterial; vor allem ältere, illustrierte Ausgaben. Huang hat viele Bücher mit wertvollen Holzdrucken gesammelt, die während der Ching-Dynastie von Festlandchina nach Taiwan gelangt waren. Für seine Arbeitsweise, sagt Huang, sind "Lesen und Phantasie gleichermaßen wichtig".

Obwohl Tempelgänger die einzelnen in einem Relief dargestellten Episoden nicht immer auf Anhieb identifizieren können, sind die meisten doch hinreichend vertraut mit den Geschichten, um die generelle Thematik wie Patriotismus oder kindliche Pietät erkennen zu können. "Die Lehren dieser Geschichten sind tief verwurzelt im Bewußtsein der Betrachter", sagt Wang Ching-tai. So wie die Schnitzer selbst, sind auch die Besucher durch Opernaufführungen, popularisierte Versionen klassischer Romane oder zu Haupteinschaltzeiten ausgestrahlte Fernsehbearbeitungen historischer Dramen mit den Geschichten, Figuren und Posen in den Tempelschnitzereien vertraut. In solchen Holzarbeiten manifestiert sich also auch überliefertes Lehrgut als Teil der volkstümlichen Vorstellungskraft.

Huang selbst verfügt auf jeden Fall über äußerst gründliche Sachkenntnisse. Er weiß über die Kleidung der Figuren, ihr Gebaren und ihre Persönlichkeit wie auch über die Waffen, die sie tragen und die Tiere, die sie reiten, in allen Details Bescheid. Wenn er eine Geschichte im Kopf hat, markiert er auf der Oberfläche eines Holzstücks lediglich die Positionen der Figuren, Tiere, Pflanzen, Bäume und Vögel. Außer zu Unterrichtszwecken sieht er keine Notwendigkeit für vorbereitende Bleistift- oder Federskizzen. "Mein Messer ist wie ein Stift", sagt er. "Es folgt meinem Geist."

Huang's künstlerische Fähigkeiten reflektieren sich am besten in seinen Personendarstellungen, der Proportionierung von Figuren und vor allem seinen szenischen Arrangements. Wang Ching-tai erklärt, daß es für jede Art von Szene verschiedene Regeln zu beachten gilt: "In Kampfszenen müssen die Posen betont werden. In Szenen mit langsamen Bewegungen oder wenn gesungen wird, gilt es, die Augen (einer jeden Figur) herauszuarbeiten. Das hilft bei der Differenzierung von Persönlichkeiten und der Schaffung einer allgemeinen Atmosphäre."

Ersteres wird in der sogenannten "J-Pose" anschaulich, einer Bewegung, die der chinesischen Oper entlehnt ist und in der ein angewinkeltes Bein mitten im Lauf dramatisch in der Luft gehalten wird. Bei der Wiedergabe dieser Pose wird die Figur oft im Profil oder mit asymmetrisch verdrehtem Körper gezeigt, um durch Übertreibung einen dynamischeren Bewegungseindruck zu erzeugen. In literarisch-beschaulicheren Szenen dient die Bedeutung, die den Augen beigemessen wird, der Charakterisierung des Temperaments einer Person, besonders ihrer Tugenden oder Laster. Diese subtilen Darstellungsmittel erfordern vom Schnitzer enorme Fertigkeiten. "Ein gelehrter Disput oder eine Gesangsszene sind die größten Herausforderung bei der Arbeit", sagt Huang.

Ein Tempelschnitzer muß auch der Plazierung der Szenen Rechnung tragen. Da sie sich meistens in Deckennähe befinden, müssen die Proportionen der Figuren auf den Betrachterstandpunkt am Boden abgestimmt werden. Das Größenverhältnis von Kopf und Körper einer menschlichen Figur oder eines Gottes beträgt beispielsweise eins zu fünf; das Größenverhältnis Figur-Tier bei einer Person zu Pferd ist eins zu zwei. "Dadurch wirkt die Schnitzerei körperlich und solide, und es entsteht ein ansprechenderer visueller Effekt", erklärt Wang.

Huang machte die Erfahrung, daß die Einfügung von Landschaftselementen wie Bergen, Bäumen oder Steinen zu einer dynamischeren Komposition verhilft. Ein Holzschnitzer, sagt er, verwendet normalerweise eine standardisierte Methode bei der Darstellung solcher Elemente. Der Stamm eines Baumes z.B. bleibt auf Bodenhöhe hinter dem Geschehen verborgen, während über der Szene Äste und Blätter sichtbar werden, die die Figuren umrahmen. Auch die Arten der Bäume und Pflanzen sind standardisiert; unter ihnen gibt es Pinien, Weiden und Bambus. Weiterhin sind Gebäude und Türme von Bedeutung für die Komposition. "Türme können Raumtiefe erzeugen oder zur Trennung verschiedener Szenen dienen", führt Huang an. "Außerdem vervollständigen sie das Bild."

Weiterhin wichtig zu beachten, meint Huang, ist das chinesische System der fünf Elemente - Metall, Holz, Wasser, Feuer und Erde -, auch wu hsing(五行)genannt, das eine Rolle in der chinesischen Geomantie spielt. "Ein wirklicher Meister muß die komplementären oder widerstreitenden Beziehungen zwischen den Elementen verstehen", sagt er. Befindet sich ein Tempel zum Beispiel in der Nähe des Ozeans oder eines Flusses, so wird der Konstrukteur wahrscheinlich mehr flammenähnliche Formen in die Dekoration einfließen lassen, um eine Balance zwischen Wasser und Feuer herzustellen. Die Holzmeister sollten auch in anderen Aspekten der Geomantie bewandert sein. "Der Standort des Tempels und die Höhe der Säulen, die das Dach tragen, stehen in enger Beziehung zur Umgebung", legt Huang dar.

Neben dekorativen Arbeiten am Bau hat sich Huang auch im Skulptieren freistehender Statuen chinesischer Götter für das Tempelinnere hervorgetan. Eines der besten Beispiele ist ein über 1,80 Meter großes Paar Wächtergötter, das er 1929 für den Chaolung-Tempel im Kreis Pingtung (Südtaiwan) schnitzte. Huang verlieh beiden Figuren, sowohl Ch'ien1i Yen (mit Augen, die tausend Meilen weit sehen können) als auch Shunfeng Erh (mit Ohren, die Geräusche in größter Entfernung zu hören vermögen), eindringliche, schreckenerregende Züge und ein imponierendes Gebaren. Zur Steigerung des dramatischen Effekts bediente er sich der traditionell diese Figuren umspielenden Bänder.

Huang glaubt, daß für alle Arten von Tempelarbeit drei Fähigkeiten wesentlich sind: "Die Fähigkeit zu entwerfen, eine leitende Idee oder ein zentrales Thema durchzuhalten, und das Werk der öffentlichen Kritik auszusetzen." Huang glaubt auch, daß ein guter Bildhauer in der Lage sein muß, das gesamte Werk einschließlich aller Details bis zu den Fingern und den Haaren der Figuren innerlich zu visualisieren, bevor er das Messer in die Hand nimmt. "Das Schnitzen ist der letzte Schritt", sagt er.

In den letzten Jahren hat Huang an kleineren Objekten gearbeitet, hauptsächlich Statuen und Zierreliefs in hochglanzpoliertem Kampferholz. Auch wenn sie nicht zur Tempeldekoration dienen sollen, handelt es sich thematisch doch um denselben Gegenstandsbereich. Unter ihnen finden sich die volkstümliche Meeresgöttin Matsu und die Götter des Glücks, des Reichtums und des langen Lebens, ein bekanntes Trio, das viele Tempeldächer schmückt. Auch chinesische Literatur und historische Quellen inspirieren weiterhin Huang's Arbeit. Er scheint es nicht als großen Verlust zu empfinden, die Tempelarbeit vor mehr als zehn Jahren zu seinem achtzigsten Geburtstag aufgegeben zu haben. "Jetzt kann ich schnitzen, was mich am meisten interessiert", sagt er.

Nichtsdestotrotz spielt Huang wie früher, vor allem seit er vor etwa dreißig Jahren breite Anerkennung fand, eine besondere Rolle bei den Bemühungen, das Kunsthandwerk der Tempelschnitzerei zu erhalten. Von 1964 bis 1974 hatte er seinen ersten Lehrauftrag als Holzschnitzlehrer an der NTAA. Er hatte den Posten bekommen, obwohl er keinen akademischen Titel oder auch nur einen höheren Schulabschluß vorweisen konnte - was eine Seltenheit an taiwanesischen Hochschulen darstellt. Was er hatte, war die Empfehlung des bekannten Malers Lee Mei-shu(李梅樹), der die Rekonstruktionsarbeiten am Tsushih-Tempel geleitet hatte, wo er Huang's Talent entdeckte.

Huang hat in den letzten Jahren noch andere Ehrungen erfahren. 1985 gehörte er zur ersten Gruppe traditioneller Künstler und Kunsthandwerker, die den vom Erziehungsministerium verliehenen Preis für Kunsterbe erhielten. Ebenfalls vom Ministerium ausgezeichnet wurde er 1989 als einer von sieben Meistern der Volkskünste. 1993 erfuhr er durch seine erste Galerieausstellung Anerkennung, in der Exemplare seiner jüngsten freistehenden Skulpturen und ungefähr fünfzig Fotografien seiner besten Tempelarbeiten zu sehen waren. Die Ausstellung war im Oktober in Taipei eröffnet worden und wanderte später noch rund um die Insel an vier andere Orte.

Gegenwärtig unterrichtet Huang wieder im Rahmen des 1991 eingerichteten Programms der Meister der Volkskünste an der NTAA. Vier erfahrene Tempelschnitzer waren für das Dreijahresprogramm - das erste seiner Art in Taiwan - zugelassen worden. Aber trotz dieser vier Studenten hat Huang keine regelrechten Lehrlinge. Er ist sich der Schwierigkeiten bewußt, die traditionellen Künste an die jüngere Generation weiterzugeben und macht sich Sorgen über ihren Verfall. "Das Ausbildungssystem ist für das Überleben traditioneller Künste nicht geeignet", sagt er. Selbst für jene, die an der NTAA Holzschnitzerei studieren, ist die für die tatsächliche Schnitzpraxis vorgesehene Zeit beschränkt. Studenten haben nur zwei bis drei Stunden Unterricht pro Woche. In einem Zweijahresprogramm sind insgesamt nur 16 Tage der manuellen Arbeit gewidmet. "Einige Studenten sind vielleicht intelligent und haben Talent zum Schnitzen", sagt Huang. "Aber es ist schade, daß sie nicht mehr Zeit zum Üben haben." Er beharrt darauf, daß Praxis und harte Arbeit nicht nur für die Entwicklung von technischen Fähigkeiten wichtig sind, sondern auch für die eigene Kreativität und Beobachtungsgabe. Er glaubt, daß das mehr beinhaltet, als nur einem guten Meister zu folgen. "Nachahmung ist auf einer frühen Stufe des Lernens wichtig, aber später muß man seine Vorstellungskraft benutzen, um wirklich etwas zu erreichen."

Huang fürchtet, daß die jüngeren Leute heutzutage nicht bereit sind, den nötigen Einsatz zu bringen, um tüchtige Holzschnitzer zu werden - und sich dabei mit wenig Geld zufrieden zu geben. "Zu meiner Zeit verdienten wir 100 NT-Dollar im Monat", sagt er. "Aber die Arbeit gab uns etwas jenseits des Geldes. Da war das Gefühl, etwas geleistet zu haben. Die jungen Leute von heute sind nicht einmal zufrieden, wenn man ihnen 600 NT-Dollar pro Tag bezahlt. Und sie sind kaum noch bereit, die Zeit zu investieren, die es kostet, sich einen Namen zu machen."

Huang betont auch, daß im modernen Tempelbauwesen meist kein Platz mehr für wirkliche Handwerkskunst ist. Es ist ökonomisch einfach nicht tragbar, die für qualitativ hochwertige Schnitzereien benötigte Zeit zu erübrigen. Viele Tempelteile, die früher zum Arbeitsfeld der Schnitzer gehörten, werden heute aus Zement gegossen. Die wenigen traditionellen Arbeiten, die noch getan werden, finden bei Rekonstruktions- oder historischen Konservierungsprojekten statt. Huang's Studenten an der NTAA gehören zu der Handvoll traditioneller Schnitzer, die es auf der Insel noch gibt. Die Schule ist nicht einmal sicher, ob sie das Programm im nächsten Jahr überhaupt noch fortführen kann.

Mit 91 Jahren ist Huang immer noch daran interessiert, seine Handwerkskunst weiterzugeben; aber er weiß, daß er diese Aufgabe nicht alleine vollbringen kann. Er hofft, daß die Regierung Wettbewerbe und Ausstellungen veranstalten und Kurse einrichten wird, um den Anreiz zu erhöhen. "Um die traditionellen Künste zu erhalten", sagt er, "muß die Regierung jene, die ihre Fähigkeiten überzeugend unter Beweis stellen, tatkräftig unterstützen."

(Deutsch von Christian Unverzagt)

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